
„Wunde“
Barbara Jonasch
Verwundungen und Verletzungen sind elementare Bestandteile unseres Lebens. Niemand ist unverwundbar.
Jeder Mensch, jede Gesellschaft und Kultur hat einen verletzlichen Punkt. Die bildende Kunst zeigt uns unsere Wunden, macht sichtbar, wie sehr sie unsere Existenz bestimmen. Kunst verhandelt Möglichkeiten und Versuche, mit unserer Verwundbarkeit zurechtzukommen. Nicht zuletzt ist Verletzlichkeit ein konstitutiver künstlerischer Moment: Bringen Verwundbarkeit und der Versuch ihrer Bewältigung nicht erst Kunst hervor? Ist es nicht gerade diese Fragilität, das Wissen um unsere Verletzlichkeit, das uns empfänglich für die Schönheit des Lebens, des Augenblicks, für die Sinnlichkeit des Seins macht?
Die Thematik von Verletzungen und Schmerz gehören zu den wichtigsten Motiven der europäischen Kunstgeschichte. Ihre Bilder haben sich freilich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Sie reichen von der christlichen Bildtradition des verwundeten Jesus über die Schreckensdarstellungen des Krieges in der Moderne bis zur zeitgenössischen Performance- und Aktionskunst, die den Körper der KünstlerInnen als Medium der Verletzung erklärt.
Die Künstlerin Barbara Jonasch forscht seit einigen Jahren zur Darstellung mittelalterlicher plastischer Wunden Christi. In der sakralen Kunst, besonders im späten Mittelalter, gewannen die Wundmale Jesu als Bild seiner Leidensgeschichte zunehmend an Bedeutung.
Die Wunden wurden explizit hervorgehoben, insbesondere die Seitenwunde Christi. Sie wurden angebetet und verehrt, traten doch mit dem Wasser und Blut die Kirche und die Sakramente, also das Leben in die Welt. Die Blutmale galten nicht nur als Austrittspforte heilbringender Flüssigkeiten, sondern auch als Eintrittspforte in das Innere des Glaubens, in das Herz Christi.
Barbara Jonasch, die auch gelernte Restauratorin ist und ihr Masterstudium in Hildesheim absolvierte, hat sich den Darstellungen der Wunden an Kruzifixen und Pietàs auf Ebene der künstlerischen Verfahrensweisen angenähert, hat ihre Machart und Entstehungsweise untersucht, losgelöst von ihrem christlichen Hintergrund.
In ihrer Werkgruppe „Wunde“ hat sie die historischen Techniken des Schnitzens, Grundierens und des Farbauftrages aufgegriffen und angewendet, das Motiv der Wunde jedoch abstrahiert und transformiert.
Auf den ersten Blick erscheinen ihre Objekte wie abstrakte Skulpturen aus Keramik mit schimmernder Glasur. Die Assoziation mit einer Wunde wird erst durch den Werktitel hervorgerufen, das Medium Holz erst bei näherer Bertachtung und in der Bildunterschrift, das Motiv erst im Gespräch mit der Künstlerin offensichtlich:
„Das Motiv der Wunde interessiert mich als Urbild der menschlichen Existenz. Es hat eine jahrhundertealte Geschichte. Mir geht es dabei nicht um eine religiöse Auseinandersetzung, sondern um das Experimentieren mit den Materialien, das Spiel mit den Oberflächen“.
In einem einzigartigen Schaffensprozess entstehen Werke, die keinen offensichtlich gegenständlichen Inhalt behandeln, sich aber auch nicht als gegenstandlos bezeichnen lassen. Die Münchnerin schnitzt die Objekte mit feinen Werkzeugen per Hand aus Holz.
Die Wunden sind als schlitzartige Vertiefungen eingearbeitet, manchmal durchbrechen sie das Holz, es entstehen Öffnungen. Schicht um Schicht trägt Barbara Jonasch die Grundierungen auf, rührt die Grundiermasse aus Kreide und Leim selbst an. Auch die Farben stellt die Künstlerin selbst her, reibt Farbpigmente in verschiedenen Bindemitteln an. Die Blutstropfen in leuchtendem Rot, Blau, Gelb oder Gold sind entweder geschnitzt und angeklebt oder aus plastischer Grundiermasse geformt und auf die angedeuteten Rippen getropft. Verschiedene Lasuren lassen die einzelnen, übereinandergelegten Farbschichten durschimmern.
Die Verwundung wird hier nicht erzählt, es wird auch kein Leid abgebildet, vielmehr tritt das Blut und die Wunde direkt vor die Augen der BetrachterIn, die Blutstropfen sind zum Greifen nahe, nur schwer lässt sich der Impuls unterdrücken, sie anzufassen, den Finger in die Wunde zu legen. Durch die besondere Bearbeitung der Oberfläche, den schichtartigen, feinen Aufbau der Haut, das Aufkleben und Einritzen, die kräftigen, leuchtenden Farben gewinnt das Material selbst unheimliche Präsenz. Die Wunde wird von ihrer inhaltlichen Gebundenheit befreit, das Materielle, die künstlerischen Verfahren treten in den Vordergrund. Das Geheimnisvolle, Magische liegt hier nicht im Geistigen, sondern im Dinghaft-Materiellen, in der sinnlichen Erfahrung. Die Einkerbungen sind keine Verletzungen, sondern Öffnungen in einen unbekannten Raum jenseits des Werkes, jenseits unseres Bewusstseins. In diesem Sinne sind die Skulpturen von Barbara Jonasch Ikonen, die auf etwas verweisen, das sich uns (noch) entzieht. Was das sein könnte, entscheidet die BetrachterIn. Etwas Sinnliches wird es auf jeden Fall sein.
Johanna Hänsch